VON LENA MAIER-HEIN, MINU TIZABI UND CHRISTOPH MICHALSKI
Die moderne Chirurgie rettet täglich Leben, doch sind Operationen auch mit Risiken verbunden. Weltweit sterben schätzungsweise 4,2 Millionen Menschen pro Jahr innerhalb von dreißig Tagen nach einem chirurgischen Eingriff. Trotz eines hohen Versorgungsniveaus ist die Chirurgie in Deutschland noch nicht so sicher, wie sie sein könnte. Vor allem bei komplexen Operationen fällt die Komplikationsrate umso höher aus, je weniger erfahren das chirurgische Personal ist. Erfahrene Chirurgen treffen bessere Entscheidungen, besitzen bessere technische Fertigkeiten und arbeiten effizienter. Wie sicher eine Operation ist, hängt also nicht nur von der Art, sondern auch vom Ort des Eingriffs ab.
Das noch junge Forschungsgebiet der chirurgischen Datenwissenschaften setzt hier an. Indem Daten systematisch und vorwiegend mittels Methoden der Künstlichen Intelligenz und neuartigen Sensorik erfasst und analysiert werden, lassen sich nicht nur Qualität und Sicherheit der Chirurgie erheblich verbessern, sondern auch die Kosten für das Gesundheitssystem deutlich reduzieren. Angesichts immer komplexer werdender Prozeduren könnten die Lernkurven von weniger erfahrenen Chirurgen verkürzt und somit Komplikationen durch Unerfahrenheit vermieden werden. Der Weg führt weg von einer eminenzbasierten Chirurgie, in der die Fähigkeiten einzelner Experten wenigen zugutekommen, hin zu einer datengetriebenen Chirurgie, die konstante Qualität und die objektiv bestmögliche Behandlung für alle Patienten gewährleisten kann.
Lösungen finden geht nur gemeinsam
KI-basierte Bild- und Datenanalyse eröffnet Chirurgen völlig neue Möglichkeiten, Operationen sicherer zu gestalten. Das zeigen zahlreiche Forschungsansätze, etwa zu intraoperativen Navigationssystemen, zur neuartigen Darstellung von Durchblutung und anderer funktioneller Gewebeparameter sowie zur intelligenten Vorhersage von Therapieergebnissen. Trotz erster Erfolge fehlt der große Durchbruch bislang. Von den ersten 520 von der FDA zertifizierten KI-Produkten stammen nur fünf aus der Chirurgie.
Die Gründe: Daten sind nur begrenzt verfügbar, und sie weisen eine mangelnde Qualität und hohe Variabilität auf. Hinzu kommt, dass sie aus heterogenen Quellen zusammengeführt und KI-Algorithmen in klinische Arbeitsabläufe integriert werden müssen. Viele der Hindernisse für eine sichere, KI-gestützte Chirurgie sind auf die mangelnde digitale Infrastruktur zurückzuführen. Aber auch regulatorische Begrenzungen stehen einer erfolgreichen Entwicklung entgegen. All diese Hürden lassen sich nur überwinden, wenn sämtliche Akteure und deren Interessen in die Lösungsfindung eingebunden werden. 2022 wurde in Kooperation mit mehr als 50 Instituten weltweit eine Roadmap für die klinische Umsetzung von KI in die Chirurgie veröffentlicht. Darin betont wird die Notwendigkeit, eine strukturierte Datengrundlage in großem Umfang zu erschaffen.
Lücken bei Erfassung und Verarbeitung
In einem dezentral organisierten Land wie Deutschland ist es logistisch schwierig und teuer, klinische Daten zu erheben. Das deutsche Klinik-IT-Wesen ist stark abrechnungszentriert. Das heißt, dass – neben gesetzlich verpflichteten Qualitätsdaten – nur wenige, für die Kostenabrechnung nötige Daten aufgezeichnet werden. Über den gesamten Klinikaufenthalt entgeht den Systemen das für die Patienten Wesentliche: eine Fülle nützlicher Datenpunkte, mittels derer sich die Behandlung in Echtzeit analysieren, individualisieren und verbessern ließe. Doch werden derartige Daten zum Beispiel im Rahmen von minimalinvasiven Operationsvideos aufgezeichnet, werden diese so gut wie nie abgespeichert und noch seltener annotiert, das heißt mit den für eine maschinelle Weiterverarbeitung erforderlichen Anmerkungen versehen. Hinzu kommt eine Vielzahl blinder Datenflecke: Haptische oder akustische Informationen können zum Beispiel bei der intraoperativen Entscheidungsfindung eine große Rolle spielen, werden aber derzeit noch von keinem Sensor im Operationssaal erfasst.
Stünde diese Fülle strukturierter Klinikdaten zur Verfügung, wäre vieles möglich. Basierend auf individuell abgestimmten Patientenwünschen könnte eine KI die jeweils aussichtsreichste Therapie auswählen und helfen, diese mittels neuester Technologien in Bildgebung und Robotik sicher umzusetzen. Auch die intersektorale Kommunikation von Gesundheitsdienstleistern ließe sich optimieren. Erste Ziele, wie zum Beispiel Arztbriefe automatisiert durch KI zu erstellen, wären mit vergleichsweise wenig Aufwand in naher Zukunft erreichbar und könnten dem ärztlichen Personal bereits mehr Zeit für die eigentliche Patientenversorgung verschaffen. Ähnlich verhält es sich mit einer KI, die basierend auf einer Zusammenschau aller diagnostischen Befunde automatisch die passenden Termine mit Patienten vereinbart. Derartige Fortschritte könnten dann weitere Innovationen katalysieren.
Chancen in den Fokus rücken
Dass KI all dies und mehr erreichen kann, ist kaum zu bezweifeln. Large Language Models wie das Programm ChatGPT bestehen inzwischen sogar den berüchtigten Turing-Test. Das bedeutet, dass ein Mensch nicht mehr unterscheiden kann, ob er gerade mit einer Maschine oder einem echten Menschen spricht. Auch im Hinblick auf Kreativität und Originalität gelang das Undenkbare: Erst kürzlich entdeckte eine KI eine neue Methode für eine grundlegende mathematische Rechenoperation, die Matrizenmultiplikation,
welche die bislang beste bekannte Methode an Effizienz überbietet. Man kann davon ausgehen, dass KI letztlich so gut wie jede Hürde nehmen wird.
Dieser rasante Fortschritt mag mitunter beängstigend wirken, doch bietet er eine einmalige Chance. Noch wäre es nicht zu spät für Deutschland, sich im internationalen Wettbewerb um die Medizintechnologie der Zukunft eine Führungsposition zu sichern. Gerade in der für die klinische Translation unabdingbaren Kombination von KI mit innovativen Hardwarelösungen ergibt sich ein großes Potenzial. Hier ist die Politik in der Pflicht, schnell zu handeln. Um international an vorderster Front mitwirken zu können, braucht es einen Paradigmenwechsel weg von abrechnungszentrierten und hin zu patientenorientierten IT-Infrastrukturen. Konkret muss dazu die Digitalisierungsstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit umgesetzt werden, einschließlich der Zuweisung einer einheitlichen Identifikationsnummer für Patienten. Darüber hinaus muss es verpflichtend sein, Datenformate zu standardisieren sowie Daten in Systemen unterschiedlicher Hersteller automatisiert exportieren zu können.
Profitieren wird davon nicht nur das durch schwindende Personalressourcen und Kostenexplosion gebeutelte Gesundheitssystem, sondern vor allem die Patienten: Sie können sich in dem Wissen unters Messer legen, die bestmögliche und sicherste chirurgische Versorgung zu erhalten – den Daten sei Dank.
Referenz und Quellenangabe:
Dieser Artikel ist ursprünglich in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) erschienen
Professorin Dr.-Ing. Lena Maier-Hein ist Leiterin der Abteilung für Intelligente Medizinische Systeme am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg.
Dr. med. Minu Tizabi arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in derselben Abteilung.
Professor Dr. med. Christoph Michalski ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Heidelberg.